Die Mehrsprachigkeit und ihre Theorie
- Die Mehrsprachigkeit in Zürich
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Die Frage, weshalb kein nachhaltiger Umgang mit Mehrsprachigkeit im ersten Zyklus stattfindet, begleitet uns seit Beginn des Studiums. Zurückblickend war das auch während unserer eigenen Schulzeit zu beobachten. Aufgewachsen als mehrsprachige Kinder stellen wir als Erwachsene fest, dass unsere Herkunftssprache nicht als Ressource anerkannt wurde (Mehr dazu hier). In vielen Praktika und Hospitationen haben wir beobachtet, dass das immer noch so ist. Deshalb haben wir es uns im Rahmen dieser Bachelorthesis zur Aufgabe gemacht, diesen Sachverhalt zu untersuchen mit dem Ziel, den Lehrpersonen zu helfen, die nötigen Mittel und das Wissen zu bekommen, die Heterogenität der Sprachenvielfalt in einer Klasse wertzuschätzen.
Bei Mehrsprachigkeit wird das Lernpotenzial der Kinder zuhause und in der Schule genutzt, es werden neue sprachdidaktische Perspektiven für den Unterricht geschaffen, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht sowie Brücken in der multikulturellen und vielsprachigen Schweiz gebaut.
Es ist relevant, Kindern Freude an mehrsprachiger Kommunikation zu vermitteln. Der Umgang mit verschiedenen Sprachen soll für das Kind zu einer freudvollen, glücklichen Erfahrung werden. Verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten, um diese positiven Erfahrungen beim Kind zu erzeugen, unter «Integration von Mehrsprachigkeit im Schulalltag». Eine gegenüber Mehrsprachigkeit positiv eingestellte Umwelt ist ein zentraler Erfolgsfaktor. Wenn Erziehungsberechtigte und Lehrpersonen Fürsprecher:innen mehrsprachiger Erziehung sind, erleichtert dies das Erlernen der Sprachen signifikant (Cathomas & Carigiet, 2008). Mehrsprachigkeit ist eine Ressource, von der ein- und mehrsprachige Kinder profitieren können. Die mehrsprachige Sprachbewusstheit dient dem Erkennen sprachlicher Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie der Feststellung von Strukturen und verschiedenen Formen der Sprachen (Kirwan, 2014). Zusätzlich wird durch Mehrsprachigkeit das Nachdenken über Sprache gefördert (Metalinguistik), was beim Kind eine differenzierte Sprachbewusstheit anregt.
Christina Winter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln. Sie ist der Meinung, dass Diskussionen über Vor- oder Nachteile von mehrsprachiger Förderung obsolet seien, wenn Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche Wirklichkeit und sprachliche Vielfalt als Lernvoraussetzung verstanden werden. Bestrebungen, eine mehrsprachige Bildung zu implementieren, mehren sich, um sprachliche Hierarchien abzubauen und mehrsprachige Kompetenzen der Lernenden anzuerkennen und zu fördern.
In einer zunehmend globalisierten Welt sind Sprachen mehr als nur Kommunikationsmittel. Sie sind Zugänge zu anderen Kulturen, Denkweisen und Perspektiven. Diese sind für die Entwicklung eines Kindes von grosser Bedeutung.
Europa, als Kontinent mit einer reichen Vielfalt an Sprachen und Kulturen, ist ein Beispiel für diese Mehrsprachigkeit. Dass diese gefördert werden muss, wird auch anhand der europäischen Politik deutlich, zumal 2001 vom Europarat der «Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER)» entwickelt und veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich um einen Rahmenplan für ein nachhaltiges Sprachenlernen mit dem Ziel, die Mehrsprachigkeit und die Interkulturalität der Bürger:innen Europas zu fördern. Die mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz wird im GER wie folgt definiert:
[...] die Fähigkeit, Sprachen zum Zweck der Kommunikation zu benutzen und sich an interkultureller Interaktion zu beteiligen, wobei ein Mensch als gesellschaftlich Handelnder verstanden wird, der über – graduell unterschiedliche – Kompetenzen in mehreren Sprachen und über Erfahrungen mit mehreren Kulturen verfügt. Dies wird allerdings nicht als Schichtung oder als ein Nebeneinander von getrennten Kompetenzen verstanden, sondern vielmehr als eine komplexe oder sogar gemischte Kompetenz, auf die der Benutzer zurückgreifen kann. (GER, o.J., Kapitel 8.1)
Besonders in der Schweiz mit ihren vier Amtssprachen wird diese sprachliche Heterogenität deutlich. Zusätzlich dazu hatten 2021 gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) 39 % der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren und 25% derjenigen unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Zürich, wo durch die Bevölkerungsdiversität oft mehrere Sprachen in einem Klassenzimmer zusammentreffen, ist ein Beispiel für kulturelle und sprachliche Vielfalt. Dies zeigt sich auch anhand der Zahlen des Volksschulamts des Kantons: 43% der Schüler:innen haben eine Erstsprache, die nicht Deutsch ist. Somit wird die Relevanz von Mehrsprachigkeit besonders deutlich. Doch statt diese Ressourcen zu fördern sowie als Stärke zu nutzen, werden mehrsprachige Kinder in Schulsystemen oft marginalisiert und ihre Sprachkenntnisse als Defizit betrachtet (BFS, 2022).
Statistiken über Mehrsprachigkeit in den Klassenzimmern in Zürich gibt es unter folgendem Link: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationen-angebote/publikationen/webartikel/2012-09-06_Wie-spricht-Zuerich.html
Dass Mehrsprachigkeit in Zürich verbreitet ist und deswegen anerkannt sowie gefördert werden soll, wird auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur deutlich. Winter (2022) hat in ihrer Studie beobachtet, dass vier Aspekte darauf hindeuten, dass sich die Integration von Mehrsprachigkeit positiv auf das Kind auswirken kann. Sie definiert diese vier Punkte wie folgt (Winter, 2022):
- Kinder scheinen ein stärkeres Selbstbewusstsein zu entwickeln, wenn ihre gesprochene Sprache aktiv wahrgenommen und anerkannt wird.
- Kinder scheinen mehr Freunde am Schulalltag zu haben, wenn sie die Möglichkeit bekommen, in ihrer Erstsprache zu interagieren. Auch diejenigen, die formell monolingual Deutsch aufwachsen, greifen die andere Sprache auf und benutzen diese mit Freude, um zu kommunizieren.
- Kiner scheinen eine erhöhte Ambiguitätstoleranz zu haben. So können sie für Gegenstände unterschiedliche Bezeichnungen annehmen und mit sprachlicher Vielfalt bewusster umgehen.
- Kinder, die formell einsprachig sind, scheinen Interesse an der Sprache des Gegenübers zu haben.
Sprache ist ein Teil der menschlichen Identität. Die Herkunftssprache eines Kindes ist ein wesentlicher Aspekt der Identitätsbildung und sollte somit anerkannt werden. Wird die Herkunftssprache abgelehnt, ist dies auch eine Ablehnung der Identität des Kindes.
Erik Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung besteht aus acht Phasen, in denen ein Mensch von Geburt an Identitätsbildung erfährt. In allen sind Komponenten zu finden, welche auch den Sprachen zugeschrieben werden. Durch diesen Umstand wird impliziert, dass die Sprachen eines Kindes wesentliche Bestandteile der Identität sind und deswegen anerkannt werden sollen (Erikson, o. J., zitiert nach Flammer, 2017, S. 96).
- Der Lehrplan21 im Kanton Zürich
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Obschon im Lehrplan21 (2017) keine konkreten Kompetenzen in Bezug auf die Mehrsprachigkeit vorgegeben werden, befinden sich in der Kategorie «Rechtliche Grundlage und Empfehlungen» wesentliche Hinweise, denen zufolge die Erstsprache der Kinder wahrgenommen und in den Unterricht integriert werden sollte. Deswegen ist es für die Lehrperson erforderlich, sich dessen bewusst zu werden. Sie sollte Mehrsprachigkeit als Ressource verstehen und darüber nachdenken, was diese Ressource für den Unterricht bedeutet:
«Jedes Kind bringt die eigene Sprachbiografie und eigene Voraussetzungen mit, die in der schulischen Bildung berücksichtigt werden sollen. Jede Sprache, die ein Kind mitbringt und dazu lernt, hat ihren Wert. Die Wertschätzung der Erstsprache stärkt die (sprachliche) Identität, die Bewusstheit für weitere Sprachen und das Sprachenlernen.» (Lehrplan21, 2017, Sprachen im schulischen Kontext)